(Andrea Martel: Neue Zürcher Zeitung vom 16. April 2016)
Sollten Sie diesen sehr aussagekräftigen und interessanten Artikel verpasst haben: Sie finden darin die heutige Situation im Immobilienmarkt sehr gut, um nicht zu sagen perfekt beschrieben. Die NZZ macht's möglich!
Die Preise, die hierzulande für Liegenschaften bezahlt werden, sind teilweise unnatürlich hoch. Dass auf den Boom eine Krise folgt, muss jedoch nicht sein – wenn gewisse Regeln beachtet werden.
Die Immobilienpreise haben sich von der Entwicklung der Einkommen abgekoppelt. Die Preise für Wohneigentum sind in der Schweiz seit der Jahrtausendwende stark gestiegen. Einfamilienhäuser verteuerten sich im Landesmittel um rund 60 Prozent, beim Stockwerkeigentum kam es fast zu einer Verdoppelung der Preise. Seit einigen Monaten mehren sich nun aber die Zeichen, dass der Zenit erreicht oder teilweise sogar überschritten ist. In besonders stark erhitzten Gegenden rund um den Genfersee, wo sich die Wohnungspreise praktisch verdreifacht haben, lässt sich seit 2013 ein Rückgang feststellen.
Auch das Luxussegment leidet vielerorts. Im laufenden Jahr wird nun erstmals gesamtschweizerisch und über alle Segmente betrachtet nur noch mit schwachen Preissteigerungen gerechnet. Nach sechzehn auch von der starken Zuwanderung genährten Boomjahren ist diese Abkühlung willkommen. Die Immobilienpreise haben sich von der Entwicklung der Einkommen und der Wirtschaftsleistung abgekoppelt. Wohnliegenschaften sind im Verhältnis zu diesen Faktoren zu teuer geworden und nur wegen der abnormal niedrigen Zinsen für Käufer überhaupt noch attraktiv.
Kreditvergabe als Schlüssel
Die Möglichkeit einer Trendwende weckt aber vielerorts auch Ängste, denn heissgelaufene Immobilienmärkte kühlen sich selten behutsam ab. Die USA mussten dies vor einigen Jahren wieder erleben, ebenso Spanien oder Irland. Auch die Schweiz hat ihre negativen Erfahrungen gemacht, mündete der letzte Immobilienboom Ende der achtziger Jahre doch direkt in eine Krise, deren Ausmass gemessen an der Grösse des Landes vergleichbar mit der letzten Hypothekenkrise in den USA war. Rund 42 Milliarden Franken an Krediten mussten damals von den Banken abgeschrieben werden, etwa 8,5 Prozent des gesamten Kreditvolumens.
Mehr als die Hälfte der ursprünglich rund 180 Regionalbanken wurde übernommen oder musste ihre Schalter schliessen, darunter als grösstes Opfer die Spar- und Leihkasse Thun. Eine längere Rezession mit hoher Arbeitslosigkeit erfasste das Land. Einiges spricht jedoch dafür, dass dieses Mal nicht mit dem Schlimmsten gerechnet werden muss. Zentraler Auslöser der letzten Immobilienkrise war die Tatsache, dass die Schweizerische Nationalbank (SNB) das Liquiditätsangebot rasant verringerte, weil die Inflation ausser Kontrolle geraten war. In der Folge stiegen zwischen 1988 und 1990 die kurzfristigen Zinsen um fast 6 Prozentpunkte, und der Hypothekarsatz erhöhte sich von 5 auf knapp 8 Prozent. So wünschenswert es heute wäre, dass die ungesunde Phase der Negativzinsen ein Ende fände: Dass sich ein solch dramatischer Zinsanstieg in nächster Zeit wiederholt, ist angesichts der vielen global ungelösten wirtschaftlichen Probleme und der Abhängigkeit der Schweizer Geldpolitik von den Entwicklungen in Europa und den USA höchst unwahrscheinlich.
Aber selbst wenn die Zinsen wieder steigen, und das werden sie gewiss: Die Gefahr ist nicht vergleichbar mit den neunziger Jahren, weil das Fundament des Häusermarkts robuster ist. Hypotheken werden heute um einiges vorsichtiger vergeben als vor dreissig Jahren – und auch deutlich zurückhaltender als in den USA, wo ja im letzten Boom geradezu ein Ansturm auf nicht kreditwürdige Personen, sogenannte Subprime-Schuldner, stattgefunden hat. Wenn die Hypothekarausleihungen derzeit um jährlich 3,6 Prozent wachsen, ist das kein Alarmsignal; 1988/89 waren es mehr als 10 Prozent pro Jahr gewesen.
Eine Hypothek bekommt heute längst nicht mehr jeder, der halbwegs nachweisen kann, dass er im Moment die laufenden Zinsen bedienen kann. Beim herrschenden Zinsniveau wäre das der Grossteil der Bevölkerung. Die Regel lautet vielmehr, dass die Hypothek auch bei einem hypothetischen Zins von 4,5 bis 5 Prozent tragbar sein muss. Die SNB moniert zwar, viele Banken nähmen es beim Einhalten dieses Standards nicht allzu genau. Auf eine Gefährdung des Systems läuft dies jedoch nicht hinaus, zumal die Tragbarkeit nur eines von mehreren Kriterien bei der Kreditvergabe ist. Eine Hürde für viele kaufwillige Haushalte ist beispielsweise auch die Vorschrift, dass das verlangte Eigenkapital nicht mehr ausschliesslich aus der Pensionskasse stammen darf.
Deutlich besser beachtet als früher wird zudem von den Banken die Regel, Liegenschaften zu nicht mehr als 80 Prozent ihres Wertes zu belehnen. Dabei gilt seit 2014 das Niederstwertprinzip, das besagt, dass für eine Finanzierung der niedrigere Wert von Schätz- und Kaufpreis relevant ist. Sollten Belehnungen trotzdem zu hoch ausfallen, korrigiert sich das System mittlerweile teilweise von selbst, da mit dem Tag der Kreditvergabe auch die Amortisationsfrist beginnt: Innert fünfzehn Jahren muss die Belehnungsquote auf zwei Drittel reduziert werden, und zwar linear.
Kommt hinzu, dass die Kunden sich selber besser absichern. 87 Prozent aller Hypothekarkredite sind heute fest angebunden, auch wenn kurzfristige Libor-Kredite günstiger sind. Als die letzte Immobilienkrise einschlug, war der Grossteil der Kredite noch variabel verzinst und die Schuldner entsprechend verletzlich gegenüber Zinserhöhungen – dies allerdings nicht aus Unvernunft, sondern weil die Festhypothek erst in den achtziger Jahren aufkam.
Keine Goldgräberstimmung
Dank der verantwortungsvolleren Kreditvergabe ist im Vergleich zur Situation Ende der achtziger Jahre heute auch weniger Spekulation anzutreffen. Dies ist deshalb relevant, weil die letzte Immobilienkrise nicht in erster Linie eine Eigenheimkrise war, sondern spekulativ angeheizt. Die meisten Eigentümerhaushalte, die in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, weil sie die höheren Zinsen nicht mehr tragen konnten oder die Bank angesichts der gefallenen Preise weiteres Eigenkapital verlangte, sassen die Baisse aus. Dies im Gegensatz zu den Spekulanten, die ihre Objekte plötzlich rasch abstossen wollten und die Preise ins Rutschen brachten.
Auch heute werden Wohnungen nicht nur für den Eigengebrauch, sondern auch zum Vermieten erworben. Bei der UBS ist der Anteil der Kreditanträge für nicht zum Eigengebrauch vorgesehene Liegenschaften innert zehn Jahren von 14 Prozent auf 19 Prozent gestiegen. Das spiegelt aber vor allem die relative Attraktivität von Immobilienanlagen im Vergleich zu anderen Vermögenswerten. Typisch für das Vorhandensein spekulativer Kräfte wäre, dass auch rascher ge- und verkauft würde. Eine entsprechende Zunahme der Transaktionen ist jedoch nicht auszumachen. Dies liegt nicht nur an der Grundstückgewinnsteuer, die einen Verkauf speziell in den ersten beiden Jahren unattraktiv macht, denn diese Steuer existierte vielerorts bereits vor der letzten Krise. Aber je mehr Eigenkapital die Banken verlangen, desto kleiner werden mögliche Spekulationsgewinne.
Dass heute keine gefährliche Goldgräberstimmung herrscht wie vor dreissig Jahren, zeigt im Übrigen auch die Bautätigkeit. In den Jahren 1988/89 stiegen die realen Bauinvestitionen um über 7 Prozent pro Jahr, und der Anteil der Bautätigkeit am Bruttoinlandprodukt erreichte zeitweise den international überdurchschnittlichen Wert von 16 Prozent. Heute sind es weniger als 10 Prozent. Wenn momentan in der Tendenz etwas viele Wohnungen gebaut werden, mag das punktuell für Leerstände und niedrige Renditen sorgen. Von einem Bauen auf Halde kann jedoch bei einer Leerstandsquote von 1,2 Prozent nicht gesprochen werden.
Aus all diesen Puzzleteilen ergibt sich das Bild eines Schweizer Wohnimmobilienmarktes, das so beängstigend gar nicht ist. Ja, die Preise, die für Liegenschaften bezahlt werden, sind teilweise unnatürlich hoch – genauso wie die Zinsen derzeit unnatürlich niedrig sind. Aber bis jetzt spielt der Markt so, wie er sollte: Dort, wo es zu Übertreibungen gekommen ist, haben die hohen Preise die Nachfrage bereits gedämpft. Nun verlagert sich die Dynamik in die bisher günstigen, eher periphereren Gegenden, die noch keine Überhitzung kennen.
Dass der Immobilienmarkt als Ganzes kippt, ist angesichts der anhaltend attraktiven Rahmenbedingungen äusserst unwahrscheinlich, auch wenn etwa das Schadenspotenzial der noch umzusetzenden Masseneinwanderungsinitiative nicht zu unterschätzen ist. Wichtig ist jetzt vielmehr, die Zügel nicht schleifen zu lassen. Denn solange die Zinsen so ultraniedrig bleiben, hindert einzig die Disziplin der Banken bei der Kreditvergabe den Immobilienmarkt daran, sich noch weiter aufzublähen: Nur wenn stur an konservativen Vergabekriterien festgehalten wird, können die teilweise zu hohen Preise ihre dämpfende Wirkung entfalten. Es ist der SNB zugutezuhalten, dass sie früh den Finger auf diesen Punkt gelegt hat. Mit ihren Warnungen und ihrem Druck auf die Banken hat sie dafür gesorgt, dass die Schweiz aus der Geschichte lernen kann. (Neue Zürcher Zeitung, Andrea Martel, vom 16. April 2016)